Jens
HAMBURGER SV - SG DYNAMO DRESDEN
Der Fußball tastet sich zurück – Streitschrift & Vorschau

9.770 – 7.102 – 17.100
Diese Daten stellen die Zuschauerzahlen des ersten Spieltags auf Schalke, in Dresden und das Maximum am Sonntag im Volkspark dar. Ich denke, dass unser erstes Heimspiel seit dem 07. März 2020 mit einer substantiellen Zuschauerzahl auch Anlass sein darf, einen Tick über das grüne Rechteck und den reinen Spieltag hinaus zu philosophieren. Hierzu ein paar Gedanken, die nicht den Stein der Weisen darstellen, sondern anregen sollen zu Widerspruch, Diskussion, konstruktivem Streit… whatever.
'Das hat mit Fußball nichts zu tun... Ohne Fans ist es nicht mal die Hälfte wert.'
So sagte Deniz Aytekin im März 2020, nachdem er das erste “Geisterspiel” gepfiffen hatte. Nur den Wenigsten dürfte zu dem Zeitpunkt klar gewesen sein, dass es fast 1,5 Jahre dauern würde, bis man wieder nennenswerte Mengen an Zuschauern zulassen könnte.
Und doch hat sich der Profizirkus weitergedreht, die Saisons konnten in ausgeklügelten Hygienekonzepten zwar mit Ach-und-Krach, aber letztlich doch erfolgreich zu Ende gespielt werden. Wir alle haben diese leeren Geräuschkulissen im Ohr, wenn prallende Bälle, fallende Spieler – mit stetig wachsender Dezibelzahl – und schreiende Trainer („Preeeesssssn!“) das einzige waren, was man während der Spiele hörte. Aber der Profifußball hat auch dies überlebt, weil seine essenzielle Einnahmebasis in der Spitze schon lange nicht mehr die sogenannten “Spieltagserträge” mehr sind, sondern die TV-Gelder und Geldspritzen der Shareholder. Er hat seine Unabhängigkeit vom viel beschworenen Stadionfan eindrucksvoll unter Beweis gestellt.
Der Fan als Kunde ist vor dem Fernseher ist die härteste aller Währungen, und wohl kein Szenario konnte so gut wie die Pandemie aufzeigen, dass seine Folklore im Stadion ein charmanter Wink aus der Vergangenheit ist.
“Nice-to-have” und sicher ein bisschen preistreibend für die TV-Gelder, aber für den Fortbestand des Sports - vielleicht nicht in der Breite - aber in seiner Spitze verzichtbar. Die Strategieabteilungen der Verbände und Vereine dürften darüber grübeln, wie man das den werten Stakeholdern positiv verklickern kann.
Die Wechsel von z.B. Sancho, Upamecano, Konaté oder Malen hätten in pre-Covid-Zeiten wohl noch etwas mehr Volumen gehabt, aber ein echtes “Krisenszenario” sieht sicherlich anders aus. Die diskutierte und von vielen erhoffte Selbstreinigung erfasste letztlich nur den Mittelbau der Vereine, die im Blick auf ihre G&V hastig versuchen, Spieler von der Payroll zu bekommen.
Nun also unsere Heimeröffnung 2021/22 mit bis zu 17.100 Fans im Rücken gegen den Dynamo aus der Partnerstadt Elbflorenz...
Dresden überzeugte am 1. Spieltag gegen Mitaufsteiger Ingolstadt mit einem blitzsauberen 3:0 – ein Bilderbuchstart, der die Belohnung für mutigen Offensivfußball darstellte, und in dem das Team auch spielerisch überzeugen konnte. Auf dem Doppeltorschützen Daferner dürften auch am Sonntag die Hoffnungen der Dresdner ruhen, zudem konnte Coach Schmidt unter Beweis stellen, dass die Bank mit den starken Vlachodimos und Mörschel ebenfalls in der Lage ist, nochmals frischen Schwung in eine Partie zu bringen. Ob die taktische Ausrichtung so auch im Volkspark durchgezogen wird, oder ob man doch zum bewährten Anti-HSV-Stilmittel “LKW plus Überfall” greift – wir werden sehen. Die Defensive zeigte sich jedenfalls rein statistisch sowohl in der Endphase der Vorsaison, als auch in diesem Spiel äußerst stabil, und so wird dieser Kick absehbar einen echten Härtetest für unser neu formiertes Team darstellen.
Unser HSV konnte im gehypten Supidupisuperligagigantenspiel auf Schalke einen plot twist für HSV-Fans aufführen: (Früher) Rückstand und das Spiel doch noch komplett gedreht?! Das gelang dem HSV in drei Zweitligasaisons in 48 Fällen ganze 7x. Zum Vergleich: Spezialist Darmstadt 98 schaffte dies allein in 2020/21 bei 21 Rückständen 8x.
Den Rautenjünger begeisterte die spürbare Überzeugung von der eigenen Stärke, die Moral, auch den vergebenen Elfer wegzustecken und die Tatsache, dass das Comeback nicht allein dem Geniestreich eines Säulenspielers zu verdanken war. 73 % Ballbesitz, dreimal so viele gespielte Pässe wie die Schalker bei einer Passquote von 89 % (!) sind schon ein Pfund. Dass Heuer-Fernandez zudem mit seinen Paraden den Sieg festhielt, war ein hübsches Sahnehäubchen. Die Spielanlage nervenzerfetzend, aber attraktiv und geglückt. Es werden andere Spiele folgen, in denen eben diese Anlage bösartig ausgekontert wird - dabei wird sich dann zeigen, wie weit das Team tatsächlich ist.
Was noch auffiel: Die Einwechsler allesamt mit einem positiven Effekt, da ging keine Ordnung oder Qualität flöten, vielmehr fügten sich Kittel, Heyer und Rohr nahtlos ein. So war es nicht reiner Zufall, dass jeder dieser Spieler auch einen Scorerpunkt zum Sieg betrug. Kaufmann deutete in seinen Vertikalläufen an, dass auch er ein echter Stressfaktor für eine gegnerische Abwehr sein kann.
Was heißt nun all das für die Aufstellung?
Verletzungsfreiheit und weiterer Aufbau bei Vagnoman vorausgesetzt, dürfte die Defensive gesetzt sein. Spannend wird es dann in den Positionen >6, bei denen sich wohl niemand als sicherer Starter fühlen darf, denn Kittel machte mit Kreativität und Spielfreude seine Ambitionen deutlich und könnte damit die Gewichte verschieben, aber auch Heyer und der gelernte IV Rohr wirken nah dran an der ersten 11.
Mein Tipp (aber ganz ehrlich: ist auch vollkommen egal)
DHF – Gyamerah – Schonlau – David – Leibold – Meffert – Reis – Kittel – Wintzheimer - Jatta – Glatzel.
Die taktische Verwurstung dieser Aufstellung könnte man jetzt in zehn Schemata darstellen – oder es gleich bleiben lassen.
Sooooo. Die über Jahre nutzlosen Glücksbringer werden wieder aus dem Schrank geholt, die Rituale vorbereitet. Stadionzeit. Vorfreude. Anspannung. Analysebier/ -saft. Wurst. Grölen, schimpfen, jubeln. Dumm Tüch schnacken. Ich freu‘ mich drauf wie Bolle. Solange es halt möglich ist.

Ob mein kulturpessimistischer Abgesang in diesem Vorbericht vielleicht doch nur Gesülze ist...?
Nur der HSV!