Jens
FC ST. PAULI vs. HAMBURGER SPORT-VEREIN - EDITION UNTERHAUS #7
Man darf auf ein paar Dinge neidisch sein – na und? NDHSV!

Ihr müsst jetzt sehr stark sein:
Ich finde Hells Bells spannender als einen Disco-Sirtaki, meine musikalische Sozialisierung hat Tomte & Kettcar inhaliert, Scooter links liegengelassen, ich würde auch lieber Downtown spielen und hinterher eine schöne Kneipe ansteuern, als mich in einem Industriegebiet auf der Treppe einer überlaufenen S-Bahn-Station hoch zu drängeln. Und nicht allein (!) das Ergebnis, sondern das ‚Drumherum‘ ist für mich beim Fußball ein nicht unwesentlicher Teil des Spieltags.
Unterm Strich müsste ich nach landläufigem– insbesondere von den Medien befeuerten - Kästchendenken also eine Dauerkarte am Dom haben (ist da der Autoscooter mit drin?). Ist nicht der Fall. Hierzu ein bisschen Historie…
1996 wurde ein kleines Buch herausgebracht vom ‚Verein Jugend und Sport‘, der in der Stresemannstrasse sowohl Träger des HSV-Fanprojekts, als auch des St. Pauli-Fan-Ladens war. Titel: ‚Lokalrivalität‘. Zu dieser Zeit hatte der Konflikt zwischen den beiden Fangruppen seinen vorläufigen Siedepunkt erreicht, daher nahm sich zur Deeskalation diese Broschüre der Geschichte an und gab Erklärungsansätze: Es war bis Mitte der 80er ein vollkommen unspektakuläres Verhältnis unter Nachbarn, die Rivalität mit Concordia, Altona 93 oder Victoria dürfte nicht größer oder kleiner gewesen sein. Während beim HSV die Fankreise traditionell eine breite Bevölkerungsschicht abdeckten, trug die kleine, aktive Fanszene in der Tendenz jedoch eher Doc Martens mit weißen Schnürsenkeln als Palästinensertücher … und trat auch so auf. Am Hafenrand nahm eine bis dahin eher fußballferne, aber dem Stadtteil eng verbundene Gruppe nun den FC St Pauli als Plattform und Kristallisationspunkt einer alternativen Szene wahr. Es entstand quasi eine neue Gattung an Fußballfans. Auch enttäuschte oder abgeschreckte HSVer wandten sich diesem neuen Angebot zu, das weniger Verbissenheit, mehr Kreativität und eine Haltung versprach, die nicht allein den sportlichen Erfolg in das Zentrum des Fandaseins stellte. Die sportlichen Kurven glichen sich zudem ab 1988 mit dem 2. Aufstieg der Braun-Weißen und dem Ende der Ära Happel immer näher aneinander an, das Selbstverständnis des HSV und seiner Fans als sportliches Aushängeschild der Stadt Hamburg war zumindest bedroht.
Medial wurde diese neue Konstellation dankbar aufgenommen und weiter zugespitzt; das ‚Reich des Bösen‘ – das auch dazu beitrug, dieses Bild zu bedienen – gegen ‚Paaaaadiiie‘ auf der Gegengeraden am Dom, die im Zweifel auch ohne Fußball stattfinden könnte. Voilá, die ‚Erzfeindschaft‘ war geboren.
Ich selbst war Ende der 80er ebenfalls mal kurz zweifelnd, aber eine Mischung aus neuen, HSV-affinen Freunden und eine gewisse Verstörtheit über die – sehr subjektiv - braun-weiße Selbstgerechtigkeit im Anders-Sein hielten mich dann doch auf Rautenkurs. Und es ist gut!
Diese Grenzen verschwimmen im kommerzialisierten Fußball, der lebendigen Stadt und sich verändernden Fanszenen natürlich immer mehr, aber die Legende lebt. ‚Love Hamburg, hate racism‘ darf man heute z.B. sicherlich als gemeinsamen Nenner sehen. Schön das.
Zum Hier-und-Jetzt: Das siebte Derby in der 2. Liga steht an, die Hibbeligkeit beim ersten Duell in 2018/19 ist einer gewissen Routine gewichen. Aber halt nur einer ‚gewissen‘… der einzige Sieg liegt nun 2,5 Jahre zurück, dem stehen zwei Unentschieden und nicht weniger als drei Niederlagen gegenüber. Die Niederlagen als solche schmerzen schon genug, aber dass die jeweiligen Rückspiele in den vergangenen zwei Saisons sogar eine Art Knackpunkt darstellten, hilft dabei so gar nicht. Selbst der Sieg im ersten Jahr sollte später das Prädikat eines ‚Derbyfluchs‘ erhalten.
Timo Schulz lässt Team Under Armour Merch wieder deutlich mutigeren Fußball spielen, nachdem seine Vorgänger Kauczinski und Luhukay doch eher im reaktiven Wartezimmermodus agierten. Bei der Wiederentdeckung der Offensive halfen in 20/21 kluge Leihen von Zalazar und Marmoush, die jedoch zu Beginn dieser Saison wieder zu ihren Stammvereinen zurückkehrten. In der Sommerpause wurden mit Bedacht netto 1,4 Mio € ins Team investiert und der neue Stil führt dazu, dass man auch einmal wieder über den Fußball auf St. Pauli spricht, anstatt über die Gedanken des auskunftsfreudigen Präsidenten Oke Göttlich. Neben guten AV-Pärchen dürfte das Mittelfeld das Prunkstück darstellen; mit Eigengewächs Finn-Ole Becker, Benatelli, Smith und Kyereh hat man dort ein spannendes Schwungrad. Ob Neuzugang Hartel schon eine Rolle spielen wird, bleibt abzuwarten.
Ein Team, mit dem man rechnen muss, das nach guten vier Punkten aus zwei Spieltagen und einem etwas glücklichen, aber auch sehr effizienten Pokalsieg in Magdeburg noch schwer in seinem Leistungsstand einzuschätzen ist.
Unser HSV marschiert im Gleichschritt (4 Punkte & 1 Pokalsieg), wird aber nach dem Sommerumbruch im Kader und der verordneten Systemänderung unter Coach Walter ebenfalls noch mit Fragezeichen in diesen Kick gehen:
Dem `ögschd attraktiven, aber auch anspruchsvollen Ballbesitz-, Pressing- und Rotationsspiel fehlt es bisweilen noch an Durchschlagskraft und Konsequenz. Tim Walter wird noch darüber grübeln, wie die Offensive die Balance aus ansehnlichem Ballvortrag und Punch findet, und wie man bei Führung und gegnerischem Ballbesitz die Schlummertaste deaktivieren kann – seine Unzufriedenheit mit dem in Braunschweig Dargebotenen war unübersehbar.
Mit der Rückkehr von Dudziak, Vagnoman und Suhonen sowie der fortschreitenden Integration von Kaufmann erhält Coach Walter neue Optionen.
Was erwarte ich von unserer Truppe? Kühle Köpfe und heiße Herzen (500 € in die Phrasensau!), die nicht brusttrommelnd und adrenalingeschwängert auf Revanche und eine halbe Hamburger Stadtmeisterschaft aus sind, sondern einfach heiß auf drei humorlose Punkte. Neben den spielerischen Fähigkeiten braucht es Mut, Zweikampflust, Wachheit und die Gier, das Runde auch gern 2x hintereinander ins Eckige zu befördern. Oder öfter.
In diesem Sinne:
Wech hau’n!
Nur der HSV!